Oliver Päßler

31.01.2018

Angestaubte Lebenskunde < back

„Wir müssen zum Aktivator, zum Veränderungsermöglichungsinstitut werden. Wir laden die Besucher ein, mit uns hier im Museum über die Zukunft der Welt zu reden. Aber wir müssen auch in ihre Welt gehen, um ihnen dort, in ihrem direkten Umfeld, in ihrem Alltag Natur nahezubringen... Wir müssen der Ort sein, der der Politik hilft, wissenschaftlich und gesellschaftlich fundierte Lösungen für den Erhalt der Biodiversität zu finden.“ (Dr. Johannes Vogel, Direktor des Naturkundemuseums Berlin)

Warum um alles in der Welt zieht es uns heute überhaupt noch in ein Museum für Naturkunde? Es gibt dafür keinen triftigen Grund. Überall sonst ist ferne Natur aus nächster Nähe zu erleben: in Zoologischen Gärten, auf Safaris, in geradezu hyperrealen Tierfilmen. Wir können die Lebensgewohnheiten von Tieren und Pflanzen studieren, ihre Laute hören, sie beim Fressen und Wachsen beobachten. Und dennoch: der Run auf die präparierte Natur ist ungebrochen.

Für ein Leben vor unserer Zeit, die urzeitlichen Fossilien und Dinosaurierknochen, ist die Faszination offensichtlich. Wie aber steht es um die Natur im Einmachglas, all die Schlangen und Fische, die sich anderenorts lebendig schlängeln? Sagen wir, das Museum spricht die Sammelleidenschaft an im Menschen. Die Besucher staunen über die materialisierte Enzyklopädie des Lebens. Artenvielfalt tritt uns modellhaft, geheimnisvoll illuminiert und gleichermaßen stumm wie eine Briefmarkensammlung gegenüber. Es ist eine sonderbare, „untote“ Natur, die wir im Museum erleben. Eine, die uns nicht mehr gefährlich werden kann. Eine, der wir ganz nah kommen, ohne uns zu verletzten. Nur berührten dürfen wir sie nicht. Wir befinden uns im Museum. 

Der Verdacht liegt nahe, dass sich genau in dieser Musealisierung der Natur die Attraktivität des Ortes versteckt. Nostalgie liegt in der nach Präparationschemie und Bodenpflege duftenden Luft, wenn wir vorbei an den Schaukästen durch die langen Flure des Hauses flanieren. Exponate mit Haustiercharakter, Felle, Schuppen und Panzer schaffen eine vertraute Atmosphäre. Die Natur an sich ist nur ein Teil von dem, was wir bewundern. Der andere Teil ist Kunst, betrachten wir doch die ausgestopften, modellierten Tiere wie Skulpturen und Gemälde. Die Kunstfertigkeit der Präparatoren verweist auf die Technik- und Mediengeschichte der Naturkunde. Wir bestaunen den gegenwärtigen Bestand der Natur in einer historischen Hülle. Das anheimelnde Setting lässt sich daher nicht uneingeschränkt genießen. Naturidylle ist immer trügerisch. 

In den stofftierartigen Präparaten steckt der imperiale Geist der Vergangenheit. Johannes Vogel, der Direktor des Naturkundemuseums Berlin, ist sich dessen vollauf bewusst. Seine Dioramen, Schaukästen mit ausgestopften Tieren umrahmt von Naturmalerei, bezeichnet er als „verbildlichtes Herrschaftswissen“. Mehr noch: einigen ausgestellten Knochenfunden liegen problematische Aneignungen zugrunde. Vorneweg ist davon das Prunkstück der Sammlung, der Brachiosaurus, betroffen. Anfang des 20. Jh. waren seine Knochen mithilfe der einheimischen Bevölkerung ausgegraben und vom Tendaguru-Hügel ins Deutsche Kaiser Reich verschleppt und verschifft worden. Tansania war damals Teil der deutsch-ostafrikanischen Kolonie. Heute fordert die Tansanische Öffentlichkeit die Originalknochen als ihr Kulturgut zurück.

Solche Fragen nach Herkunft und rechtmäßigem Eigentum sind für Naturkundemuseen virulent. Ihre ernsthafte Aufarbeitung hat gerade erst begonnen. Momentan bestimmt die historische Dimension der Sammlung die Außenwahrnehmung und gibt Anlass zu künstlerischen Interventionen. Doch diese greifen zu kurz, wenn beispielsweise die Nasssammlung als Inspirationsquelle für eine Oper dient oder dereinst aus Kuba importierte Korallenriffe als Aufhänger für einen Spielfilm herhalten müssen. Die eigentliche Kompetenz des Museums als naturwissenschaftlich forschende Institution bleibt davon unberührt. Dabei ist es das erklärte Ziel der aktuellen Museumskampagne „für Natur“, die eigene wissenschaftliche Forschung an die Öffentlichkeit zu bringen. Und zwar zu den drängenden Fragen unser Zeit wie Klimawandel und Artenschwund.       

Das Naturkundemuseum steht allgemein vor der großen Herausforderung seine wissenschaftliche Arbeit nicht nur zu kommunizieren, sondern auch auszustellen. Die höher entwickelten Wesen sind nur ein winziger Klecks gegen Anzahl und Fülle des mikrobiellen Lebens. Unser Wissen über die molekularen Mechanismen der Biologie, z.B. Membranvorgänge oder Ionenkanäle, steigt exponentiell. Doch wie präsentiert man die Life Science und ihren Mikrokosmos am besten? Wie die Biotope von Bakterien und wie das Leben in einer Zelle? Hat Eigentum und Herkunft in diesen Zusammenhang überhaupt noch eine Bedeutung? Das Micropia Museum im zoologischen Garten von Amsterdam hat dafür eine erste kreative und angemessene Lösung gefunden.

Dort wo das menschliche Auge nicht mehr hinreicht, ist es naheliegend die Neuen Medien zu bemühen, um das Diorama ins Digitale zu übersetzen. Ein neues Kapitel der Präsentationsgeschichte wird geschrieben: Statt statischer Konfrontation mit dem Objekt geht es jetzt darum, interaktive oder gar immersive Raumerlebnisse zu erzeugen. Wir stehen dann nicht mehr andächtig vor dem Diorama wie vor einem Altar, sondern befinden uns sozusagen mitten in der Dynamik des Lebens. Anders und stärker als bestehende Ausstellungspraxis schafft es die Multivision, vereinzelte Objekte in einen Kontext zu setzen und zu reanimieren.    

Film, Animation und Projektion können so ein neues Terrain für die Naturkunde erobern. Im Bewusstsein ihrer Präsentationskultur geht das auch spielerisch, durch Imitation oder ironische Brechung. Was damals galt, gilt genauso heute: Jede mediale Präsentation ist Kind ihrer Zeit, hat ihre eigene Geschichte. Es wäre klug, die eigenen Implikationen innovativer Darstellungsformen mitzudenken.

Eine sich nach außen öffnende Ausstellungspolitik birgt für das Naturkundemuseum Chancen, schafft neue Kooperationen mit Forschungsinstituten und gläsernen Laboren. Andererseits lohnt es, den Charme der eigenen Antiquiertheit zu nutzen. Als Wohlfühlinstitution zählt das Museum zu den wenigen verbliebenen Orten unserer Gesellschaft, wo Debatten neutral und geschützt unter dem Knochenzelt von Urzeitriesen geführt werden können.