Oliver Päßler

28.10.2012

Ostmoderner Humanismus < back

Fotograf Florian Kolmer in Strasse Nummer Eins / Foto: Axel Schneppat

"Architektur im Film" Filmreihe der Architektenkammer Berlin

"Strasse Nummer Eins" (Dokumentarfilm / ZDF Das kleine Fernsehspiel)

Als ich 2002 in Berlin auf Wohnungssuche war, kam ich per Zufall in die Rathausstraße am Fernsehturm hinter dem Alexanderplatz zu einem gigantischen, lang gestreckten Apartmentblock. Bei der Wohnungsbesichtigung im 13. Stock fing mein Vormieter an zu prahlen:

„Die Rathausstraße, das war doch die wichtigste Straße in ganz Berlin, in der ganzen DDR überhaupt war das die Straße Nummer Eins!“ Da trafen zwei ganz verschiedene Menschen aufeinander, der eine aus dem Osten, der andere aus dem Westen. Beide waren wir fasziniert von diesem Ort: der treue Mieter wegen seiner schillernden Vergangenheit und ich wegen seiner Klarheit und Modernität. Strasse Nummer Eins - einer der repräsentativsten Orte der ehemaligen DDR?

Ich kontaktierte drei ehemalige Architekten und lud sie ein in meine frisch renovierte Plattenbauwohnung. Nach 35 Jahren zum ersten Mal wieder vor Ort, schwärmten sie von einer Zeit, als im historischen Berlin das moderne Stadtzentrum der DDR errichtet wurde. Der Höhepunkt, neben dem Fernsehturm mit seiner unverkennbaren Kuppel, war der neue Wohnkomplex in der Rathausstraße. Mit seiner kühnen Architektur, den öffentlichen Terrassen und Passagen, sollte das Gebäude ein kulturvolles Zusammenleben ermöglichen. Im Politjargon wurde die Bebauung bedeutungsschwanger als „Verkörperung des realen Humanismus“ gepriesen. Hier sollte die „sozialistische Menschengemeinschaft“ ihr neues Heim finden. Aus den Anekdoten der Architekten brach die Aufbruchsenergie von damals geballt hervor.

Deshalb steht das utopische Model der Rathausstraße bewusst am Anfang meines Films. Entgegen der Verurteilung, Ironisierung und Verharmlosung der DDR ging es mir darum, ihre Geschichte einmal anders zu erzählen, die DDR an dem höchsten Anspruch zu messen, den sie an sich selbst gestellt hat, gleicht die Rathausstraße doch dem Versuch der Erschaffung einer in sich perfekten Welt. Man muss dieses Ideal ausformulieren, um es zu verstehen und ohne es gleich zu werten. Ich wollte wissen, wie sich diese in Beton gegossene Utopie von einer glücklichen Gemeinschaft auf die Menschen im Haus ausgewirkt hat und ob sie heute noch fortwirkt. Die Architektur steht in meinem Film vor allem als Metapher für die gesellschaftlichen Ambitionen und Umstände. Das Schicksal der Bewohner wird am Haus und durch das Haus überhaupt erst deutlich. Die Verheißung von der „Verkörperung des realen Humanismus“ als Anspruch an die Architektur war abstrakt genug, um das interpretatorische Potentiale ihrer Bewohner herauszufordern. Sie waren es, die die Bauten buchstäblich mit Leben füllten. 

Meine Protagonisten sind Menschen, deren Leben über Jahrzehnte aufs Engste mit der Rathausstrasse verknüpft ist, die das Hochhaus als ihre Heimat lieben, es verabscheuen, oder einfach nur froh sind, von dort weg zu sein. Ich treffe auf Menschen, deren Sehnsüchte und Wünsche entscheidend von dem Gemeinschafts- und Versorgungskonzept geprägt sind und für die die Schizophrenie zwischen Kameradschaft und Überwachung alltägliche Realität war. Die Mehrzahl der Bewohner hat diese „heile Welt der Diktatur“ durchlebt und daraus ganz unter-schiedliche Schlüsse gezogen. Am schwierigsten war es für mich, die Dialektik der Meinungen zur Geltung zu bringen, ohne eine Position vorschnell zu werten. Mit den Perspektiven aufs Haus in seinen Lichtstimmungen zu verschiedenen Jahreszeiten habe ich versucht, das unwirkliche Lebensgefühl in der Rathausstraße atmosphärisch spürbar zu machen.  

Im Verlauf der Dreharbeiten hat sich gezeigt, dass die Frage nach der Gemeinschaft das geistige Band des Filmes bildet. Was kann ein Architekturmodell dazu beitragen und wo liegen seine Grenzen? Einerseits öffnet sich das Gebäude zur Straße, lädt die Passanten ein und schafft so Austausch und Öffentlichkeit. Andererseits wohnen dort die Privilegierten in ihren einheitlichen Parzellen, erhaben, wie auf einer Burg. Ohne Beziehungen und gesellschaftliche Konformität war es kaum möglich, in der Rathausstraße eine Wohnung zu bekommen. Diese Tendenz zur Wohnelite lag nicht an der Architektur selbst, sondern an der damaligen Vergabepolitik.

Doch schafft das Ideal von Gleichheit, auf das die streng modulare Plattenbauweise abzielt, mit den immer gleichen Wohnungsgrößen und -aufteilungen nicht eine Gerechtigkeit, die gerade einschränkt? Das verordnete Modell normiert die Gemeinschaft. Das Scheitern der modularen Plattenbauweise und mit ihr der Modernen Architektur liegt darin, ein überzeitliches Patentrezept für die Einlösung gesellschaftlicher Ansprüche zu behaupten, ohne die Freiheit des Einzelnen genügend zu berücksichtigen. Im vorgefertigten Paradies scheint kein Platz zu sein für die eigenen Wünsche. Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl hat in einer Diskussion zum Thema Architektur und Gesellschaft einmal gesagt: „Man muss Gemeinschaftsentwürfe immer wieder von ihren selbst geschaffenen Totalitätsvorstellungen entrümpeln“. - Das ist die Kehrseite der Medaille, die der Film vor Augen führt.

Ich glaube, man kann die DDR gut von ihrer Architektur, von ihren Orten her dechiffrieren. Ein System, das nach dem Krieg mit der Tradition abschließen wollte und dadurch ortlos geworden, also von Anbeginn utopisch gewesen ist. Wie wollte der neue Staat die Gesellschaft wieder aufbauen? In den 60er Jahren entstand das Gebäude in einer einmaligen historischen Situation. Mit Hilfe von Wissenschaft und Technik glaubte die DDR, die gesellschaftliche Entwicklung steuern zu können. Für jede logistische Herausforderung suchte man das passende System.

Die Rathausstraße ist ein idealtypisches Beispiel für dieses Denken. Doch der Selbstwiderspruch des utopischen Auftrags war von Anfang an programmiert. Kann man überhaupt „real humanistisch“ bauen in einem Land, das seine Grenzen schließt? Wie soll man unter diesen Umständen gemeinschaftlich zusammenleben? Es ist dieses große Misstrauen gegenüber dem „Ort“, der Tradition, der Geschichte, dem Privaten, welches das Wesen der DDR bestimmt hat. Das Misstrauen gegenüber den gesellschaftlichen Freiräumen, die sie selber geschaffen hat, um sich in der Welt neu zu erfinden. Der Stasi-Apparat ist kein separat zu betrachtendes Unheil, er ist vor allem auch ein Effekt uneinlösbarer, idealisierter Zielvorstellungen.

Trotz Mauer und Stacheldraht wurde damals aber etwas in der Rathausstraße geschaffen, was die Menschen heute, nach dem Umbau, vermissen. Der öffentliche Raum verlor durch die Umgestaltung der Passagen zum Center seinen Charakter und steht damit auch symbolisch ein für die Wendeschicksale im Film. Das ursprüngliche Raumkonzept der Rathausstraße hat nach wie vor seine Berechtigung, weil Öffentlichkeit hier erfahrbar und begehbar wurde. Dahinter steht ein städtebauliche Ideal von Transparenz, Offenheit und Freizügigkeit, das auch nicht einfach wegzudenken ist. Wenn man will, kann man diese Vorzüge im Haus erleben:

„In dem, was hier geschieht, liegt die Größe, nicht mehr in der Rhetorik der Steine. Aber vielleicht muss man selbst wirklich frei sein von Repräsentations- und Statusbedürfnissen, von dem zwanghaften Bemühen um die Herstellung eines Nimbus von Persönlichkeit, um diese unbestimmten, ungerichteten und eigenschaftslosen Räume ertragen zu können... Die gelebte Platte bedeutet verinnerlichte Einsicht in die Notwendigkeit universellen Teilens und Schonens.“ Simone Hain, die Expertin für ostmoderne Architektur bringt es auf den Punkt bringen. Der industrielle Wohnungsbau hat einen ethischen Anspruch, den man sich bei all seiner Ablehnung immer wieder vor Augen halten muss.

Könnten wir ohne diese Versuche leben, für die Gemeinschaft Konzepte zu entwickeln? Auch wenn es immer schwieriger wird, in der sich rasant diversifizierenden Gesellschaft gemeinsame Perspektiven zu finden, - wir können es nicht. Wir sollten Modelle entwickeln, an denen wir scheitern dürfen, gleich wie gut sie gemeint sind. Aber wir sollten niemals den Anspruch auf eine funktionierende Gemeinschaft aufgeben. Dem Umbau und der Entfremdung zum Trotz - die Rathausstraße lebt immer noch.